Vulgär, rebellisch und fesselnd – Bill Kaulitz veröffentlicht Autobiographie

„Career Suicide – Meine ersten 30 Jahre“ – so hat Tokio Hotel-Frontmann Bill Kaulitz seine erste Autobiographie genannt.
Das Buch erscheint am 1.2. bei Ullstein, ich habe vorab ein Leseexemplar zugesandt bekommen. Und was soll ich sagen? Am Freitag bekam ich das Buch, jetzt, am späten Sonntagnachmittag habe ich die 387 Seiten gelesen. Ich konnte „Career Suicide“  kaum zur Seite legen, da das Buch ein klassischer Pageturner ist: Es geht um Drogen (viel!), Sex (früh und auch mal gekauft) und Verrat sowie Liebe (familiär und toxisch).

Der ewige Rebell – seit frühester Kindheit

Bill ist ein Rebell, das zumindest lässt er uns circa alle fünf Seiten wissen. Auch die vulgäre Sprache, ich habe nicht mitgezählt, wie oft er von „Mösen“, „Muschis“, „Schwänzen“ und „Wichsen“ schreibt und auch teilweise schiefe Vergleiche aufmacht, sollen dies vermutlich bezeugen. Herr Kaulitz aka gefallener und wieder auferstehender Rockstar ist nonkonform und darf so vulgär sein, wie er möchte. Über seine kaputten Stimmbänder schreibt er beispielsweise:
„Ich fand, dass meine Stimmbänder aussahen wie eine sehr nasse Muschi mit richtig dickflüssigem Scheidensekret, das vor Geilheit schäumte.“ 

Ah ja, okay. Die Kindheit und Jugend im Osten, in der alle arm und frühreif waren, laut Bills Erzählungen, haben auch in der Schreibe ihre Spuren hinterlassen. Mir persönlich war es an einigen Stellen zu viel.

Internationaler Superstar – zwischen Manga-Ästhetik und neuer Männlichkeit

Tokio Hotel sind mit „Durch den Monsun“ über Nacht berühmt geworden. So wie ganz Deutschland, hatte ich sie von Beginn an auf dem Radar, fand die Band spannend und ganz besonders natürlich Bill. Bei zwei Touren war ich live dabei, 2008 in der Dortmunder Westfalenhalle bei der „1000 Hotels World Tour“ und  2010 bei der „Welcome to Humanoid City Tour“ in Oberhausen. Ich fand die Songs okay, vielmehr mochte ich es, wie Bill sich inszenierte und die Gendergrenzen regelmäßig erweiterte. Ein musikalisches Phänomen aus Deutschland, das deutlich spannender ist, als so viele andere deutsche Musiker:innen und Bands.

Ein öffentliches Leben seit 2005

Die einzelnen Abschnitte der Karriere noch mal aus Bills Sicht nachzulesen war spannend. Sofort waren die Bilder von Bill, Tom, Gustav und Georg auf dem Monster Truck bei den MTV Awards wieder da, ebenso wie die Bilder der gehetzten und verfolgten Zwillinge in Hamburg. Kaulitz beschreibt auch noch einmal eindringlich, in welchen Knebelverträgen Tokio Hotel lange gefangen waren.

„Dogs Unleashed“ live ist ein visuelles Gaylight, oder?! Manche Songs wie eben dieser, „Girl Got a A Gun“, „Spring Nicht“, „Love Who Loves You Back“, „Schrei“, oder „What If“ sind richtig gute Lieder. Auch der neue Electro-Track „White Lies“ ist ein echter Ohrwurm und passt in jede (queere) Großraumdisco.

Beichten: Drogen ja, Sex eher weniger

Das ist Bills Sicht auf die Welt, seine Geschichte, daher darf er frei entscheiden, welche Geheimnisse er mit uns teilt und welche nicht. Kurz: Über seinen Drogenkonsum spricht er recht offen, über sein (wie auch immer präferiertes) Sexleben weniger. Es gibt einige Andeutungen und der Verlust der einzigen und großen Liebe wird vage umrissen. Aber das Leben in L.A. ist teuer und vielleicht wird Bill eines Tages ein Spin Off zu „Career Suicide“ verfassen, in dem es mehr um sein Sexleben geht.

Ein selbstgerechter Partyprinz mit manipulativer Ader

„Ich weiss, wie ich jedes Meeting, jeden Raum, den ich betrete und jeden Menschen der vor mir steht, sofort manipulieren, kontrollieren und in meinen Bann ziehen kann.
Dieser Satz klingt für mich unsympathisch und gleichermaßen wie eine Schutzreaktion eines Egomanen. Ich traf Bill mal bei einem Event anlässlich der Veröffentlichung der „Kings of Suburbia“-Platte und nahm ihn als offen, zugewandt und freundlich wahr. Manche Aussagen im Buch zeigen: Drogen machen nicht nur von außen hässlich, weswegen Bill nach drei Partynächten immer eine Pause einlegt, sondern sie machen auch von innen hässlich.
Ebenso dieser Satz lässt endlose Selbstüberschätzung diagnostizieren: „(…) denn an Abhängigkeiten glaube ich ebenso wenig wie an Therapie (…).

Mein Fazit: Spannende Charaktere sind nicht nur sympathisch

An der ein oder anderen Stelle finde ich Bills Einschätzungen misogyn. Im Kindergarten gab es das „pummelige Mädchen“ Saskia, das immer nach „ungewaschener Muschi“ roch. Außerdem schreibt er über die heutigen spät gebärenden Frauen, die laut Bill nur Karriere im Kopf haben. Der Sänger befindet sich stetig in Bewertungssituationen. Bill wird stets bewertet und bewertet andere Menschen – zumindest deren „fette“ Körper. Spannende Charaktere sind nicht immer ausschließlich unfehlbar oder überwiegend sympathisch.
„Jede:r kann die Person werden, die sie sein möchte“ – auch diesen Schluss könnte aus der Lektüre über das Leben und die Emanzipation des jungen Mannes aus der ostdeutschen Provinz ziehen.
Und nein, seine Karriere hat Bill mit der Veröffentlichung seiner Autobiographie sicher nicht beendet.

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