Wie erkennt man Armut? Wer weniger als 917€ im Monat als Single zur Verfügung hat, ist laut Armutsbericht 2017 arm. In Felix Lobrechts erstem Roman geht es nicht um Statistiken, es geht um den Alltag eines Teenagers in der Berliner Gropiusstadt. Dort sind die Menschen alles andere als wohlhabend, kaum eine Familie ist intakt.
Der Boy aus Berlin
Autor Felix Lobrecht ist gebürtiger Berliner und strahlt Ghetto-Credibility aus: Er hat aufgepumpte Oberarme, trägt weisse Sneaker und hat den typischen Neukölln-Boxer-Haarschnitt. Als Stand Up-Comedian war er in den letzten Jahren omnipräsent vertreten. Er wurde z.B. von Dieter Nuhr oder auch „NightWash“ eingeladen. Bei youtube werden die Auftritte von Felix Lobrecht gerne und oft angeschaut, viele Clips haben mehr als eine viertel Million Zuschauer.
Durch ein krummes Ding zu etwas Geld
Mir ist eine Stelle im Buch besonders in Erinnerung geblieben: Protagonist Lukas ist durch ein krummes Ding zu etwas Geld gekommen und gönnt sich zwei Markenpizzen im Supermarkt: „Auf jeden Fall eine Markenpizza und nicht diese Dreierpack-Billigdinger wie sonst, wo ich einmal Geld habe.“ (S.157). Im Laden trifft er die Mutter seines Freundes Gino, eine gebürtige Italienerin, die mit einem gewalttätigen Alkoholiker zusammen ist. Sie kommen auf das Thema Pizza zu sprechen und Frau Ebert bedauert, kein Geld für frische Zutaten für eine selbstgemachte Pizza zu haben. Sie kauft das günstige No-Name-Dreierpack:
„Aber ich kaufe auch diese. Is billiger die Scheiße, leider.“ (S.160).
Armut schlägt sich auf das Kaufverhalten u.A. bei Lebensmitteln nieder. Genau diese präzisen Beschreibungen der Umwelt und des Verhaltens der Mitmenschen aus Lukas` Sicht sind eine der Stärken des Buches.
„Ich fick sowas“ – oder auch der große Bruder wird es richten
Lukas wohnt bei seinem Papa, seine Mutter ist bei seiner Geburt verstorben. Der Tod der Mutter wird im Roman nicht weiter thematisiert. Sein älterer Bruder Marco arbeitet jetzt im Schichtdienst im Lager und war früher ein respektierter Schläger auf den Straßen der Gropiusstadt. Marco hat viel Zeit mit türkischen und arabischen Jungs in Gropiusstadt verbracht, was sich in seiner Sprache spiegelt. So sagt er z.B: „Salem Aleikum, Familie!“ (S.56) oder „Hade, tschüss“ (S.193). Immer wenn Lukas in Not gerät, boxt ihn sein großer Bruder raus. Oft reichen nur einige Anrufe bei alten Weggefährten.
Die Gang – Gras, Suff und viel freie Zeit
Zu Lukas Clique gehören Julius, Gino und der frisch zugezogene Sanchez. Die vier Jungs gehen auf dieselbe Gesamtschule, zumindest theoretisch. Meistens hängen sie rum, rauchen, kiffen oder planen ihre Wochenenden, am besten mit Suff und Party. Keiner von ihnen hat eine intakte Familie: Ginos Vater ist ein prügelnder Alkoholiker. Sanchez ist mit seiner Mutter, die „keen Bock mehr auf den Nigga“ hatte, also Sanchez Vater, gerade von Hellersdorf nach Gropiusstadt gezogen. Lukas neuer Nachbar beschreibt seinen alten Kiez so: „Viele Kanaken hier, wa? (…) Die jibs bei uns nicht – in Mahrzahn und Hellersdorf jibs nur Deutsche, Russen und Fitschis. Die Russen sind die schlimmsten. Abgesehen von den Nazis „ (S.48).
Lukas ist der einzige Deutsche in seiner Klasse.
Tiefsitzender Rassismus in der Schule
In der Schule wird eingebrochen und einige Schüler werden einzeln befragt, so auch Lukas.
Lehrer Reinicke bittet zum Gespräch und sagt:
„Also wir sind ja hier unter uns, und die ganzen Schwarzköpfe hier werde ich bestimmt nicht um Hilfe bitten. Dass hinter dem Einbruch irgendwelche Alis stecken, wissen wir beide, aber die werden nichts verraten, die halten zusammen. Und genauso müssen wir Deutschen auch zusammenhalten.“ (S.194)
Der Lehrer, der einen deutschen Namen hat, stellt alle Nicht-Deutschen unter Generalverdacht. Herr Reinicke suggeriert ein „Wir gegen die“-Szenario. Sofort fühlte ich mich an die NSU-Morde erinnert, da man dort ja auch lange deutsche Täterschaft ausschloss.
Die Musik – Berliner Schnauze
Deutsch-Rap steht bei den Teenagern hoch im Kurs:
„(…) ich skippe zwei Lieder vor auf `Heavy Metal Payback` von Bushido und Fler und rappe leise mit. Ich kenne alle Texte auswendig. Alle.“ (S.9)
Radiomusik wird gehasst, beim Betrinken hören sich Lukas, Sanchez, Julius und Gino „Märkisches Viertel“ von B-Tight. „Mach ma wieder Sekte oder Bushido oder so!“ fordert Julius, als Sanchez zur Abwechslung Reggaeton hören möchte (S.67). Die Clique hört Deutsch-Rap, der ihre Lebensrealität scheinbar treffend beschreibt – und der die Welt ganz klar in Loser und King sowie Nutte und Pimp unterteilt.
Passend zum Thema des Buches, das Leben einiger Teens zwischen Gropiusstadt und Neukölln, gibt es den Song „Berliner Schnauze“ von Said und Juju von SXTN.
Diese neue Schullektüre braucht das Land
Meiner Meinung nach wäre „Sonne und Beton“ eine gute Schullektüre für die achte oder neunte Klasse, da die Sprache den Ton von Teenagern authentisch trifft ohne ins Überzeichnete abzugleiten. Außerdem werden Themenkomplexe wie Recht und Unrecht, familiäre Konflikte und Vergeltung sowie Freundschaft behandelt und bieten eine umfangreiche Diskussionsgrundlage.
Sonne und Beton – Eine fein beobachtete Milieustudie
Boxen oder geboxt werden – das ist eine der zentralen Fragen in Lobrechts Debütroman. Das Erstlingswerk des Berliner Poetry-Slammers liest sich ohne Anstrengung – sowohl im grauen Berliner Winter, als auch im Sommer beim Cornern im Park oder am See. Mich hat „Sonne und Beton“ auch leicht beklommen hinterlassen, weil die Versäumnisse in der aktuellen Schul- wie Sozialpolitik sowie struktureller Rassismus mehr als deutlich werden und realistisch beschrieben sind.
Raus aus dem Ghetto und mehr Aufstiegschancen für alle
Die „Es geht uns allen ach so gut Jahre“ sind für Millionen von Menschen, die sich nur Billig-TK-Pizzen leisten können, vorbei.
Die nächste GroKo scheint beschlossene Sache, es wird sich an den Zuständen in Deutschland wenig (Achtung: Euphemismus) ändern. Dringend ist eine soziale Kehrtwende von Nöten, damit die Gesellschaft nicht weiter auseinander dividiert wird. Fehlende Aufstiegschancen, große Unterschiede im Lohnniveau und dem damit verbundenen Lebensstandard, bereiten den Nährboden für radikale und menschenverachtende Ansichten.