Ein guter Abend wird im besten Falle durch wohl kuratierte Musik zu einem runden Erlebnis.
Mir ist das letztens erst passiert: Ich kam ins Columbia Theater und es lief „Sunset Strip“ von Hole.
Rock star, pop star, everybody dies
All tomorrow’s parties
They have happened tonight
Es gibt nur heute Nacht, daher nehmen wir bitte einmal alles – diese Megalomanie ist oftmals suchtkranken Menschen zu eigen. Benjamin von Stuckrad-Barre, ehemaliger Kokser und Konsument diverser anderer Rauschmittel, hat mit „Panikherz“ den autobiografischen Roman diesen Jahres geschrieben. Der Tourabschluss der 56 Termine umfassenden Lesereise sollte in Berlin gefeiert werden. „Stuckiman“ hat groß aufgefahren beziehungsweise eingeladen: Zur Überraschung des vollbesetzten Saals eröffnete Udo Lindenberg den Abend mit dem Song „Ich schwöre“. Dieses Lied beschreibt die Intensität der Freundschaft vom Panikrocker und meinem Lieblings-(Pop-)Literaten als dauerhafte, alle Zeiten und Distanzen überwindende Institution.
Glück für die oder den, der solche Freund*innen hat.
Bevor der Autor auf die Bühne kam, wurde ein heroischer Mix aus u.a. „Smells like Teen Spirit“ von Nirvana und „The Heavy Entertainment Show“ von Robbie Williams eingespielt.
He`s Got The Look
Benjamin kam stilsicher in gestreiftem Matrosenshirt mit blauen Blazer, weißer Swatch-Uhr, weißen Nike-Schuhen mit blauem Air-System, weißem Calvin Klein-Slip und passend abgestimmten Menthol-Zigaretten mit weißem Filter, auf die Bühne. Sein Buch und einige Feuerzeuge, die mensch im Anschluss an die Lesung mit ihm tauschen konnte, hatte er in einem marinefarbenem Leinenbeutel, der, seiner Aufschrift nach, aus der Geburtsstätte aller Hipster, aus Williamsburg NYC, kam. Ist das noch Stilsicherheit oder schon Fetischismus?
Kurz: Der Look war gut, der Autor aufgeregt, der Abend hatte gut begonnen.
Es ist zwölf Jahre her, dass Olga und ich Benjamin von Stuckrad-Barre zum ersten und bis dato letzten mal live erlebt haben. Es ist viel in aller Leben passiert, aber das Interesse an Stuckrad-Barres Schaffen und seinem Leben hat uns immer begleitet.
Wir waren beispielsweise im Mai diesen Jahres in Los Angeles und haben das Chateau Marmont, der Ort, an dem „Panikherz“ entstand, besucht.
Dankbarkeit und Demut
Beim Tourabschluss wirkte der „Soloalbum“-Autor zappelig, also gesund. Er brachte den Inhalt von „Panikherz“ in nur zwei Sätzen auf den Punkt:
„Mir geht es gerade nicht so gut. Ich muss mich irgendwo hinlegen“.
Es ist ein Zitat seines vierjährigen Sohnes, der seinen Papa manchmal als so anstrengend empfindet, dass er sich eine (Spiel-) Pause erbittet, wie Stuckrad-Barre bei dieser Abschlusslesung in Berlin berichtete.
Im taz.am wochenende-Interview vom 29.11.16 sagte er über die neue Verantwortung und die Beziehung zu seinem Sohn:
„Im Tagesgeschäft bin ich ein Ausfall. Aber wenn ich dann mit meinem Sohn Zeit verbringe, und er mir was erzählt über ein Müllauto, bin ich ganz da, dann ist alles andere egal – ob ich mich schlecht fühle, unproduktiv, dumm, zu dick, all meine Neurosen, alles furchtbar interessant, aber nicht jetzt. Es ist eine körperliche Liebe, die ich vorher nur als Klischee-Kitsch kannte. Ich würde für diesen Jungen jederzeit sterben.“
Stuckrad-Barre hat Demut und Dankbarkeit für sich entdeckt, so scheint es. Natürlich gab er, immer um einen Lacher bemüht, zu, dass sich „eigentlich immer alles zuerst im mich dreht“. Trotzdem:
Mehrmals bedankte er sich an diesem Abend beim Publikum fürs Kommen und bei seinen Freunden fürs Unterstützen.
Lesungen? Besser nicht in Paderborn
Es gibt einige Passagen aus „Panikherz“ zu hören und auch wirklich witzige Anekdoten von seiner Lesereise. In Siegen steht ein Hotel, das bald schließt, „da am anderen Ende der Straße ein weiteres Hotel aufmacht“ so erklärte es die Rezeptionistin. Er dazu: „Da hat jemand wirklich die Marktwirtschaft verstanden. Wir machen einfach unser Hotel zu, wenn woanders ein Hotel aufmacht.“
Er rät auch von Lesungen in Paderborn ab, „da da eh niemand kommt und der Veranstalter das auch genauso sagt“. In Berlin teilt er sich kurzzeitig mit Susi aus dem Publikum die Bühne und die Zigaretten. Der Autor gab sich interessiert und scheint ein gewisses Maß an Nähe zu zulassen.
Später am Signiertisch wird er einen Pullover tragen, auf dem das MC Hammer-Zitat „Can`t touch this“ prangt.
Das große Finale
„Panikherz“ soll an diesem Abend endgültig zugeklappt werden. Ferdinand von Schirach,
Strafverteidiger, Autor, „Panikherz“-Klappentextempfehlungsschreiber und Freund von „Stuckiman“, kam auf die Bühne, um die letzten drei Seiten vorzulesen. Benjamin setzte sich unterdessen rauchend an den Bühnenrand und lauschte. Im Anschluss sang Udo Lindenberg „Hinter`m Horizont“ und machte seinem Freund und Schützling klar, dass es ein Leben nach dem Bestseller „Panikherz“ gibt. Keine Frau scheint zu dem (Künstler-) Freundeskreis des Autors zu gehören – zumindest war nicht eine Künstlerin an diesem Abend auf der Bühne.
It’s a long way to happiness – a long way to go
Den Schlusspunkt bildete der großartige Song „Happiness“ von den Pet Shop Boys, der eingespielt wurde, als das Licht bereits wieder an war und Stuckrad-Barre sich seinen Weg durch die Menge (ja, vielleicht rund 200 Menschen in der Schlange?) zum Signiertisch bahnte. Dort schrieb er geduldig Autogramme, machte Fotos (unseres ist leider zu 100 Prozent verwackelt), rauchte und war kleinen Plaudereien gegenüber aufgeschlossen. Ich machte ihm ein Kompliment für die musikalisch gelungene Umrahmung. Er bekräftige, dass wirklich er die Songs ausgesucht habe und „Happiness“ sein Song des Jahres 2016 sei. Wir waren beide einwenig enttäuscht, dass wir an diesem Abend die wunderbaren Pet Shop Boys im Tempodrom verpasst hatten. Schuld war die Terminierung mit Stuckimans, Lindenberg und von Schirach konnten nur an diesem Abend.
Ich bin mit meiner Entscheidung sehr zufrieden, diesen auf der Eintrittskarte angekündigten Tourabschluss (bewusst nicht „Lesereise“-Abschluss!) mit Olga bei Benjamin von Stuckrad-Barre verbracht zu haben. Ferner halte ich es mit Neil Tennant und Chris Lowe: Die lange Straße zum Glück wird mich sicherlich wieder auf ein Pet Shop Boys-Konzert führen.
Vielen Dank, Herr von Stuckrad-Barre für diesen Abend.