St. Vincent veröffentlicht „Daddy’s Home“

Und wieder einmal ist St. Vincent nicht mehr die, die wir zu kennen glaubten. Aber das ist Teil der Konzeptkunst, mit der uns Annie Clark immer wieder aufs Neue konfrontiert. War auf ihrem letzten Album „MASSEDUCTION“ (2017) alles sehr bunt & bold und ihr damaliger Look sleeck x Lackfetisch, ist sie jetzt erblondet und zurück in die 1970er bzw. Anfang der 80er Jahre gereist.

Technicolor statt Hochglanz und wabernde Moog-Sounds sind verbindende Elemente auf dem sechstem Album der Musikerin. „Daddy’s Home“ hätte komplett in den Electric Lady Studios aufgenommen werden können. Insgesamt war St. Vincent in vier verschiedenen Studios in New York und Los Angeles, Electric Lady war eines davon. Zwischen seinen Aufnahmen mit Lana del Rey und Taylor Swift hat Jack Antonoff Zeit gefunden, das neue St. Vincent Album gemeinsam mit Annie Clark zu produzieren.
Die erste Single ist „Pay Your Way In Pain“ und das Video skizziert deutlich die Gangrichtung des neuen Longplayers. Funk trifft auf Disco Vibes, wir reisen in das schwül-flirrende und gleichermaßen ranzige New York von vor über 40 Jahren.
In „The Melting of The Sun“ referiert die Musikerin u.a. auf feministische Ikonen wie Nina Simone („And proud Nina got subpoenaed singing, „Mississippi, good goddamn“) und Tori Amos („Brave Tori told her story“). Fortgeführt wird der Ansatz in „Down“. „Down“ ist hypnotisch, eine Selbstermächtigungs- bzw. Vergeltungshymne in der St. Vincent singt:

When you hit me two times
You got yourself a fight (…)
I’ll take you (Come on, baby)
I’ll take you down

Das Kontrastprogramm ist „Somebody Like Me“, eine reduzierte, federleichte Nummer mit Country Vibe.
Ähnlich minimalistisch beginnt „My Baby Wants A Baby“, der Sound weitet sich, es kommt ein Chor hinzu und zum Schluss schließt sich der Kreis und der Song endet ähnlich, wie er begonnen hat. Hier greift St. Vincent den Albumtitel „Daddy’s Home“ wiederholt auf.

Die verschiedenen Bedeutungen von „Daddy“

Was verbirgt sich hinter dem Begriff „Daddy“? Im hetereosexuellen Kontext ist Daddy die Verniedlichung von Dad, also „Vater“. Im queeren Kontext sind Daddys die eher dominanten, etwas älteren Parts in den Beziehungen. Daddys zahlen die Rechnungen und haben eine entspannte sowie dominante Art. Sie werden in der Regel als der vermeintlich männlichere Teil der Beziehung gelesen.
Die Rolle des Daddys nimmt St.Vincent in „My Baby Wants A Baby“ ein: Sie kehrt in das Nest ihrer Liebsten ein und genießt gutes Essen statt Mikrowellenfraß. Außerdem nimmt sich die erzählende Person vor, nicht wegzulaufen, wie es ihr Vater tat. Hier verschmilzen Fiktion und Realität: St. Vincents Vater musste aufgrund von Finanzbetrugs mehrere Jahre ins Gefängnis. „At The Holiday Party“ steht in einer thematisch Verwandtschaft zu „Pills, Pills, Pills“ von „MASSEDUCTION“. Es geht um verschiedene Sedativa, ihre Wirkung und den Prozeß des künstlerischen Schaffens. Es ist ein organischer Song, im Fokus steht St. Vincents Stimme, die von Blechbläsern gerahmt wird.
„Candy Darling“ ist eine Hommage an die gleichnamige transsexuelle Muse von Andy Warhol. Sie verstarb 1974 im Alter von nur 29 Jahre, vermutlich an Leukämie, passend dazu ist der dreizehnte Song auf „Daddy’s Home“ melancholisch.

Mein Fazit:

St. Vincents neuestes Werk lässt sich in den Zeitgeist einordnen, die 70er/80er sind zurück. Kylie Minogue hat mit „Disco“ eine Discoplatte abgeliefert, ähnlich wie Dua Lipa mit „Future Nostalgia“.
„Daddy’s Home“ ist die experimentierfreudige Indie-Schwester in der Soundfamilie, die etwas dramatischer und Prince und David Bowie-lastiger als ihre Mainstream-Geschwister ist. Mit St. Vincent wird es nicht langweilig und ich weiss ihren konzeptuellen Ansatz sehr zu schätzen. Moog-Sounds genieße ich in moderaten Dosen und daher wird „Daddy`s Home“ vermutlich nicht in Dauerschleife laufen. Aber das muss es auch nicht, denn guten Wein trinkt mensch auch nicht täglich. Sollte mensch zumindest nicht, sonst findet mensch sich mitten in „At The Holiday Party“ wieder.

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