Seit Tagen wache ich jeden morgen mit Kopfschmerzen auf. Ich verzweifle einmal mehr am Menschen: Gerade wurde ein schwarzer Mann in den USA durch die Folgen willkürliche Polizeigewalt getötet. Der Tod von George Flyod versammelt Black Lives Matter-Aktivist*innen auf den Straßen und im Netz.
Warum ist der Mensch so schlecht?
Bereits 1993 bin ich im Alter von 11 Jahren zu der Erkenntnis gekommen, dass Menschen andere Lebewesen schlachten – und ich da bewusst nicht mehr mitmache. Jegliche Gewalt ist mir zuwider. Gerade jetzt fällt mir wieder einmal auf, wie eingeschränkt mein Aktionsradius ist. Die Schlachtindustrie unterstütze ich seit 27 Jahren nicht mehr, ich gehe auf Demos und unterstütze Initiativen mit Spenden, wenn immer ich es für sinnvoll halte. Aber wie bekommt man Tötungsabsichten und Mordlust aus dem Menschen? Warum gibt es überall Nazis auf der Welt, die (beinahe ungestraft) töten – von Hanau bis Minneapolis? Warum werden Frauen geschlagen, beschnitten und getötet? Was sind die Gründe dafür, dass Tiere wie Lebewesen zweiter Klasse behandelt werden?
„Evolution“ wird gern als Standardantwort gegeben. So einfach ist es ganz bestimmt nicht. Wir alle haben jeden Tag die Möglichkeit, uns zu entscheiden, wie wir leben: Ich habe mich für ein Leben mit Empathie und Aktionismus entschieden, auch wenn das heißt, dass ich ab und an in ein Loch falle, weil mir klar wird, wie viel Gewalt und Missgunst in der Welt ist und ich allein an diesen Tatsachen nichts ändern kann.
Dance the pain away – Lady Gaga ist mit Chromatica zurück
Depressionen, chronische Faser-Muskel-Schmerzen (Fibromyalgie) und ein Leben unter ständiger Beobachtung, Lady Gaga hat auch einige Herausforderungen, mit denen sie umgehen muss. Sie ist ein fester Bestandteil meines Lebens, sie ist meine Inspiration seit 2009. Meine Begeisterung nach meinem ersten Gaga-Konzert in Köln kann man auf meinem ersten Blog nachlesen.
Ihr letztes Studioalbum „Joanne“ gehört nicht zu meinen persönlichen Gaga-Favoriten. Sie setzte sich auf der Platte mit dem frühen Tod ihrer Tante Joanne auseinander, quasi als Blaupause für ihren eigenen Schmerz. Die Songs, die mehrheitlich von Mark Ronson produziert wurden, waren ernste Popnummern und zündeten bei mir nicht richtig.
Chromatica als musikalischer Gegenentwurf zu Joanne
Chromatica ist der Gegenentwurf: Die 16 Songs sind allesamt Dancenummern, deren DNA im 90s Pop, dem Eurodance sowie der Gay Disco der 80er und 90er zu verorten ist. Der Dancefloor als Ort der Freiheit. Das Wunderland, nach dem wir alle suchen, auch wenn wir nicht „Alice“ sind, wie Gaga im gleichnamigen Song singt. Das Album ist in drei Akte unterteilt, die durch wunderbare, klassische Interludes gegliedert werden. Über Gagas Stimme muss an dieser Stelle nichts mehr gesagt werden außer an die Leute, die erst seit „A Star Is Born“ sich wundern, dass diese Lady auch singen kann: Ihr seid Ignorant*innen. Aber: Willkommen in der Electric Chapel of Gaga, wir Little Monsters sind ja Kindness Punks.
My biggest enemy is me
In „911“, einem Midtempo-Song, singt Gaga über ihren härtesten Kritiker: Ihre innere Stimme. Das Motiv kehrt in mehreren Songs wieder, so z.B. ebenfalls in „Plastic Doll“ oder „Fun Tonight“.
Besonders berührt hat mich „Rain On Me“, die zweite Single aus Chromatica, die Gaga gemeinsam mit Ariana Grande veröffentlicht hat. Ich bekomme jedes mal Gänsehaut, wenn ich „Rain On Me“ höre. Es ist eine Hymne für den Umgang mit Depressionen und über den Umgang mit den Gegebenheiten der Welt, in der wir leben. Es prasselt auf uns ein und wir haben die reale sowie metaphorische Wahl: Hassen wir das Gefühl von Regen auf der Haut oder sehen wir den Regen als Möglichkeit zur ritueller Waschung?
It’s coming down on me
Water like misery
Im Video sieht man zu Beginn, wie hunderte von Dolchen auf Lady Gaga herab fallen und einer in ihrem Oberschenkel stecken bleibt. Aber sie steht auf, tanzt und zieht ihn heraus. Innere Stärke und den festen Willen weiterzumachen, den tragen wir alle in uns. Es gibt eine Sprechgesangstelle, die wie ein Gebet klingt:
Hands up to the sky
I’ll be your galaxy
I’m about to fly
Rain on me, tsunami
Hands up to the sky
I’ll be your galaxy
I’m about to fly
„Rain On Me“ ist der definitive Beweis, dass Gaga zurück ist. Die eigene Verletzlichkeit anerkennen und wieder aufstehen könnte die Botschaft sein. Bereits in „Marry The Night“ sang Gaga:
„I’m a soldier to my own emptiness
I’m a winner“.
„Sour Candy“ ist ein Track, den Lady Gaga gemeinsam mit Black Pink veröffentlicht hat. Kurz: Ich mag das Lied, da es mich einwenig an den Sound von „Push It“ von den Nightcrawlers erinnert. Zudem hätte der Part von Black Pink auch von Britney eingesungen werden können.
Kein Dancefloorkracher ohne Ikonen der Queer Culture
Ohne die Stonewall Proteste würden wir wahrscheinlich immer noch in einer Nische leben müssen. Freiheit muss erkämpft und verteidigt werde. In „Free Woman“ singt Gaga „This is my dancefloor I fought for“. „Babylon“ ist eine Hommage an Madonna: Der Sprechgesang erinnert an „Vogue“ und der Chor an „Like A Prayer“. Elton John ist bei „Sine From Above“ zu hören. Man muss starke Nerven haben, um beim ersten Hören nicht direkt zu weinen. Elton singt:
I lived my days just for the nights
I lost myself under the lights
When I was young, I felt immortal
Die Breakbeat-Stelle am Ende klingt wie ein Kampf um Leben und Tod. Hoffen wir, dass Elton noch lange unter uns bleibt.
Mein Fazit zu Chromatica
Vom futurisch-dystopischen Artwork über die perfekte Produktion bis zu den Texten: Chromatica markiert einen Meilenstein für den Pop und in Lady Gagas Karriere.
Eine Frage bleibt: Bereits bei der Veröffentlichung von „Stupid Love“ habe ich mich gefragt, ob Gaga mit der Rückkehr zum Dance-Pop wirklich glücklich ist. Eine ehrliche Antwort werden wir wohl erst in ihren Memoiren finden.
Ob Lady Gaga in Zeiten von Corona und mit all ihren körperlichen Leiden die Platte live zum Leben erweckt, steht noch in den Sternen. Die Konzerte Ende Juli und im August sind noch nicht abgsagt. Aber: Chromatica kann für sich allein stehen und wird ihre Kraft auf den Tanzflächen auf der ganzen Welt entfalten. Dieser Tage kann die Tanzfläche auch das eigene Wohnzimmer sein. Nicht erst seit der Gründung ihrer „Born This Way“-Stiftung ist klar: Gaga ist mehr als nur eine Entertainerin, sie ist ein sehr empathischer Mensch und setzt sich für ein besseres Miteinander ein. Gerade hat sie ein Statement zu dem Tod von Georg Flyod auf Instagram veröffentlicht.
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Kleine Schritte: Weniger Fleischkonsum
Leider können wir die Welt nicht von heute auf morgen fairer und (tier)leidfreier machen. Aber es gibt Entwicklungen in die richtige Richtung.
Der tägliche Fleischkonsum in Deutschland ist um 12 Prozent, auf aktuell 26 Prozent, von 2015 bis 2020, gesunken. Menschen können also Umdenken. Wir alle machen den Unterschied und sollten nicht aufhören, Unrecht zu benennen und dagegen vorgehen. Für vermeintliche Schwächere und Diskriminierte müssen wir einstehen. Und ja, ich bin mir meiner priviligierten Lage als weiße Frau in Europa bewusst.
Um mit Worten aus „Rain On Me“ passend zu enden:
Livin‘ in a world where no one’s innocent
Oh, but at least we try, mmm
Gotta live my truth, not keep it bottled in
So I don’t lose my mind, baby, yeah
Die Welt ist so wie sie ist, aber es ist an uns, sie zu ändern. Solidarität und Respekt sind und bleiben unerlässlich. #BlackLivesMatter